Uwe Salzbrenner, Ithaka gibt’s nicht. Zu Gregor Kunz, Luftschiffhalde III, Gedichte 2000-2019, in: SIGNUM, Blätter für Literatur und Kritik, Sommer 2022



Gedichte von Gregor Kunz können eine ganze Welt umfassen. „Gagarins Wald“ zum Beispiel beginnt mit einer orphischen Kosmogonie, durchstreift Wälder und Sowjetgeschichte, vereint Wappentiere und Stadtgespenster, bis es endlich mit des Kosmonauten Stimme in den Himmel springt: „Dunkel ist's draußen, Genossen, die Welt ist sehr dunkel. / Schön sind die Sterne, aber zu groß. / Schwer wird das Sprechen, alles verschwimmt. / Was für eine Schönheit! Ich sehe die Erde! Ich sehe die Wolken. // Habt Mitleid mit mir.“ Aus einer Vielfalt eng aneinander gesetzter Bilder, aufgeladen mit Bedeutung, ragt oft eins heraus, die sie vermeintlich definiert, in einem anderen Licht erscheinen lässt. In „Grenzfluss, noch dieser“ die Tiere im Wasser, die vor Bränden geflohen sind. In „Letzter Gast, sprechen musst du“ die kuriosen Vögel. Tiere sind es oft. Aber was sind sie, wenn mehr als Tiere? Zum Unbehagen des Lesers lassen sich die ineinander verkanteten Situationen bei Kunz nicht alle gleichermaßen aufschlüsseln, wecken nicht in gleicher Stärke Assoziationen. Anders gesagt: Man fühlt sich dem Gedicht nicht immer gewachsen. Wenn ein paar Zeilen ins Auge fallen, ist das womöglich ein Fehler, eine Übersprunghandlung?
Die Verse selbst jedenfalls springen nicht, sie versichern. Sie folgen einem ruhigen, doch hartnäckigen Rhythmus, meist in Langzeilen gebunden, oft von einem Auftakt getrieben oder vom vorangestellten Verb. Diese Eigenheiten erhöhen sofort den Ton, den man beim Lautvorlesen dann gar nicht mehr heben muss: Man will das Gesagte auch unverstanden glauben, so triftig, unabdingbar wird es von Kunz vorgetragen, ja aufgerufen. Die eingestreuten Bemerkungen in Umgangssprache, die Fragen und Kommentare verstärken diesen Eindruck noch: Das Wichtige wird im Selbst- oder Zwiegespräch geprüft — aus einer Haltung heraus, die man wohl widerständigen Pessimismus nennen kann. Oder soll man sagen: Widerstand gegen schlechte Verhältnisse?
Es droht ja alles zu verschwinden, was dem Dichter auf Spaziergängen in Böhmen, Sachsen und Randberlin begegnet und das er wieder aufruft. Kunz liefert ein Inventar lange bewohnter, benutzter Häuser, im Detail oder in Verallgemeinerung: Er schreibt vom Sand, der buckligen Erde, dem Haus mit seinen Zäunen und der Regentonne. Von Dächern, die einsacken, von Mauerwerk, Blech und Glas. Es gibt das gute Geröll und sehr trockene Knochen, Steine, geschichtet, Koffer, Schachteln, Fächer, nochmals Dachsparren und Schutt in allen Ziegelfarben, leere Fabriken. Zuweilen ist die Welt fast vollständig verstellt von der Fülle des eigenen Verfalls. Freilich registriert Kunz in hohem Farbempfinden auch das, was dort schon immer und jetzt auch über die Dinge wächst, in allen Grüntönen. Das widersteht ebenfalls. Aber aus früheren Jahrhunderten, die da stets mit aufgerufen sind, kommt auch der Hunger nach Brot, das Leid und der Krieg. Viel Arbeit und reichlich enttäuschte Hoffnung der Armen gehören dazu. Die Häuser gehen kaputt, die Verhältnisse halten sich. „Nicht Herrschaft und Macht, einen Hund kannst du haben“, heißt es einmal. Das fällt einem schon zu Recht ins Auge. Kunz hat Geschichtsverständnis und ein gut trainiertes soziales Bewusstsein.
Noch näher an Krieg und Raub sind die Sondierungen der griechischen Antike im Gedicht. „Was ich übrig ließ, werden sie nehmen oder nicht, / was sie übrig lassen, haben andere dann.“ Manches sagenhafte Objekt taucht auch hier als Versteinerung auf. Anders jedoch als in seinen Essays zu Giorgos Seferis und den Argonauten, der Untersuchung zu Odysseus und dem Hörstück zu Iason und Medea rekonstruiert Kunz im Gedicht den Mythos nicht nach den Quellen. Wer da spricht — meist sehr alt, mal im Generationsabstand, mal als Zeuge — scheint dem Überlieferten sogar zu misstrauen: „Ithaka gibt’s nicht und Troja gab‘s nie.“ Dagegen treten ein paar der wunderbaren Wesen auf, die aus umlaufenden Geschichten von Herodot überliefert worden sind. Aber die Toten sind registriert. Der Göttersohn Herakles ist bei Kunz zuerst Arbeiter, dann Veteran der Befreiung, beinlos auf Rädern. Und durch die Maske spricht am Schluss noch der Dichter: „Ich / zerre was mich zerrt (plötzlich fehlende Hände, unstill / noch vor dem ersten Wort das Verstummen, töten ist leicht). / Aufwärts den uralten Sack. Es gibt keinen anderen. Ich: // Aber dem Tod in die Fresse.“
Gregor Kunz lebt in Dresden, ist Jahrgang 1959, schreibt seit 1979. Die vorliegende Auswahl stammt aus den Jahren 2000 bis 2019 und ist der Gesamtausgabe dritter Teil, der jetzt zuerst erscheint. Vom Schaffen davor ist der Großteil bislang unveröffentlicht. Eine Luftschiffhalde wird man deshalb nicht finden. Stattdessen sofort einen Dichter auf der Höhe seiner Kunst, bei dem mit den Jahren mehr und mehr jedes Gedicht fürs gesamte Werk stehen könnte, besonders „Brot und Spiele: ABC“. Zum Staunen des Lesers ist das gelegentlich Unverständliche bei Kunz ganz einfach — Reichtum. Wer weiß sonst schon vom Blau der Montagsknochen, dem Rabenrot, dem Wolfslicht? Was spricht schärfer von Propaganda als der kreischende Löffel im Gehirn? Nicht als Erklärung, aber sehr passend für ihn selbst zitiert Kunz im Seferis-Essay den griechischen Kollegen: „Das eigentliche Ziel des Dichters ist nicht, die Dinge zu beschreiben, sondern sie benennend zu erschaffen, das ist, denke ich, auch seine größte Freude.“ Das spürt man beim Lesen. Man kann sich sehr lange damit aufhalten. Man hat, wenn man will, jede Woche ein neues Gedicht als Favoriten.


Gregor Kunz: Luftschiffhalde III. Gedichte 2000 – 2019. Schönebeck (Moloko Print 113) 2021. 175 Seiten. 15,00 Euro._Signaturen.de, 10.8.2021

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